Es geht um die disruptive Transformation im E-Commerce: Händler müssen mit dem gleichen Anspruch rangehen, wie es ein digitaler Disruptor macht. Das bedeutet dann auch statt kleckern klotzen zu müssen, um diesen Anspruch zu erfüllen.
Anfang März hat in München die Internet World 2017 stattgefunden – das große Branchentreffen des deutschen E-Commerce. Messen sind ja nicht deswegen fantastisch, um sich Unmengen an kostenlosten Kugelschreibern und Gummibärchen in die Taschen zu packen, sondern weil hier die Themen, Trends und Entwicklungen besprochen werden, die eine Branche bewegen. So auch auf der Internet World, daher zuerst ein herzliches — wie man in Bayern sagt — MEASE für die tollen Gespräche und den anregenden Gedankenaustausch.
Für alle, die nicht dabei waren, haben wir aus dem spannenden Inhalten und Diskussionen ein besonders anregendes Thema herausgepickt, dass wir hier präsentieren wollen: „Weg mit dem Zahlensalat: E-Commerce braucht verlässliche Daten.“ In einer Podiumsdiskussion hat unter anderen der Handelsexperte Gerrit Heinemann über die Problematik von unzuverlässigen Angaben zum Online Umsatz gesprochen: Da es keine klaren Definitionen gibt, was mitgerechnet wird, kommt es zu falschen Trendaussagen. Heinemann, Leiter des eWeb Research Centers an der Hochschule Niederrhein, setzt sich daher seit Jahren für die Thematisierung des Problems ein. Auf der Internet World haben wir Herrn Heinemann zum Gespräch getroffen.
Herr Heinemann, was meinen Sie mit dem Begriff Zahlensalat?
Bei den Umsatzangaben im Online Handel und E-Commerce herrscht ein regelrechter Zahlenkrieg darum, wie viel Umsatz online eigentlich gemacht wird. Die Spannbreite variiert da mal eben um 70%! Woher kommt das? Um das zu ergründen, muss man Fragen stellen wie: Welches Geschäftsmodell wird als Einzelhandel betrachtet? Werden Marktplatzumsätze berücksichtigt? Werden Crossborder Umsätze mitgerechnet? Ich bleibe beim Beispiel Marktplätze, wie eBay oder Amazon. Wenn hier nur die Provisionen statt des echten Handelsvolumens genannt werden, dann fehlen da mal eben 15 Mrd. Euro Online Umsatz in Deutschland. Auch der Crossborder Umsatz nimmt radikal zu. Die Wenigsten wissen, dass auf dem Amazon Marktplatz die Hälfte des Angebots aus dem Ausland kommt. Und als letztes Beispiel noch der Verkauf von Tickets: Während deren Umsatz im stationären Handel in den Umsatz mit einfließt, wird online gesagt, das seien Service Umsätze, die nicht dazu gezählt werden. Allein in Deutschland haben wir 15 Mrd. Umsatz mit solchen Service Umsätzen wie Tickets. Damit kommt es zu Differenzen alleine zwischen dem Begriff E-Commerce und Online Handel.
Was ist der Unterschied zwischen Online Handel und E-Commerce?
Ich versuche das Thema so zu lösen: Online Handel ist der Handel mit Waren (ohne Apothekenumsätze und Automobilhandel), der klassischer Weise als Einzelhandel gilt. Alles andere, heißt Hotels, heißt Tickets und Fahrkarten ist E-Commerce. Selbst Online Banking und die anfallenden Kontogebühren könnte man hier dazurechnen. Und ganz wichtig ist dann noch hinzuzufügen, dass das der reine Online Umsatz ist und nicht der Hybrid Umsatz — den man eigentlich auch addieren müsste. Das sind Umsätze, die im stationären Handel getätigt werden, wo aber der Kunde die Kaufentscheidung im Internet getroffen hat. Es gibt da ja die etwas verkrampfte Definition zu sagen, Umsatz findet nur da statt, wo bezahlt wird.
Was sind die Konsequenzen aus diesen Zahlendifferenzen?
Dieses Wirrwarr führt zu Überschriften wie „Online Wachstum ist vorbei“. Solche Aussagen halte ich für extrem gefährlich, denn das Gegenteil ist der Fall: Wir haben wieder beschleunigtes Wachstum. Wir würden auch noch schneller wachsen, wenn strukturelle Hindernisse das Wachstum nicht bremsen würden.
Das Wachstum ist noch lange nicht vorbei. Meine vorsichtige Schätzung meint, dass man in den nächsten zehn Jahren mindestens noch einmal von einer Verdoppelung ausgehen kann.
Daher rufe ich zum Wachrütteln auf: Aussagen über das Ende des Online Wachstums sind gefährlich. Sie führen dazu, sich bestätigt zu sehen, nichts zu tun. Genau das Gegenteil muss aber stattfinden.
Was ist die Antwort der bisherigen Anbieter?
Es ist ja immer die Option, gar nichts zu tun und den Kopf in den Sand zu stecken. Aber dann ist man irgendwann nicht mehr da. Manche Anbieter dagegen machen vielleicht zu viel und zu früh. Das richtige Timing ist auch ein Aspekt. Viele fangen einfach an, irgendetwas zu tun, und nennen das dann digitale Transformation.
Was würden Sie nun fordern?
Einheitliche Standards und zwar auf nationaler wie auch europäischer Ebene. Es braucht genau festgelegte Definitionen, was im publizierten Umsatz einer Branche enthalten ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ist Tierfutter eigentlich Food? Ist Tabak oder Alkohol Food oder nicht?
Die Verbände oder die Kammern könnten hier das Sprachrohr sein. Ich befürchte aber, da sitzen noch viele Vertreter, die — nach dem Prinzip Hoffnung — bewusst die Wahrheit nicht so darstellen wollen, wie sie aussieht. Die Wahrheit kann weh tun.
Sie setzen sich für klarere Definitionen im Zahlensalat ein. Sind sich die Leute des Problems bewusst?
Ich sag mal so, wenn der Zahlensalat nun Thema einer Podiumsdiskussion auf der Internet World Messe hier ist, muss das ja einen Grund haben. Es scheint auch andere zu beschäftigen.
Kommen wir auf den Online Handel zu sprechen. Der Buchhandel war die erste Branche, die online verkauft hat. Warum hat das funktioniert?
Ja, Amazon hat mit Büchern in einer Garage angefangen und es hat auch eine Zeit lang gebraucht, bis es funktioniert hat. Aber Jeff Bezos war überzeugt.
Ich denke, der Erfolg ist auch damit begründet, weil das Buch ein relativ einfach zu verschickendes Produkt ist. Ich muss es nicht kühlen und es kann nicht so schnell kaputtgehen. Außerdem hat der Versandbuchhandel eine lange Tradition. Amazon hat beispielsweise zu Beginn in Deutschland bewusst ihre Logistikstandorte neben den Logistikstandorten von Buchgroßhändlern angesiedelt.
Spannend zu beobachten hier auf der Messe finde ich, dass auch beratungsintensivere Branchen online verkaufen. Wir sehen das bei Optik, Hörakustik oder Fahrrad. Das sind sehr beratungsintensive Produkte, bei denen es doch eigentlich gar nicht möglich sein sollte, dass sie sich online verkaufen. Aber es ist trotzdem sehr gut möglich.
Liegt das auch daran, dass sich durch die digitale Kommunikation Formen der Beratung verändert haben?
Definitiv. Ich würde sogar noch weiter gehen: Es gibt aktuelle Studien, die besagen, dass 7 von 10 Kunden die Meinung vertreten, besser informiert zu sein, als das Ladenpersonal. Das reicht, glaube ich, als Hinweis.
Das Beispiel Buch zeigt, welche strukturellen Bedingungen es braucht, um Online Handel erfolgreich durchzuführen. Was sind die Stolpersteine oder Hindernisse bei der Digitalisierung des Handels?
Ja, es gibt da ganz viele Gründe, zum Beispiel die digitale Netzinfrastruktur an. Im deutschsprachigen Raum ist diese relativ katastrophal, daran wird aber mit Hochdruck gearbeitet. Im OECD Vergleich für die Zukunftsnetze ist die deutsche Breitbandversorgung sogar hinter Griechenland.
Das zweite Hindernis ist das Angebot, das sich in vielen Branchen erst aufbaut. Bei Möbeln oder Lebensmitteln ist beispielsweise das Angebot noch nicht ausreichend da — deswegen kann auch der Umsatz noch nicht gemacht werden. Ein zusätzliches Problem ist hier, dass viele stationäre Händler, in ihrem Online Shop das kleinste Sortiment haben, also nur einen Bruchteil vom Sortiment im Laden. Das ist oft der Versuch, den Onlinekauf bewusst auszubremsen.
Dritter Punkt ist sicherlich die Funktionalität: Oft läuft bei einem Online Shop noch nicht alles so, wie es müsste. Wir stellen fest, dass viele Kunden sehr wohlwollend versuchen, kleine, lokale Händler zu unterstützen. Sie versuchen dort online zu kaufen, aber es funktioniert einfach schlecht. Der Online Käufer wird tabuisiert oder manchmal sogar als Beratungsdieb verstanden.
Der vierte Grund hängt mit der Funktionalität zusammen: Der Kunde möchte online etwas kaufen und stellt im Check-out des Online Shops fest, dass sein bevorzugtes Bezahlverfahren nicht angeboten wird: Das ist noch immer die Rechnungszahlung. Viele Händler sind aber immer noch der Meinung, dass die Online Kunden nicht nur Beratungsdiebe sind, sondern auch nicht bezahlen. Dabei verursacht der Rechnungskauf nachweislich 40% — wenn ich ihn anbiete.
So, und diese vier aufgezählten Gründe sind nur ein paar Faktoren.
Was kommt noch dazu?
Dazu kommen dann auch mangelnde Lieferservices als Bremse im Online Handel. Warum werden gebündelte Lieferung oder fix vereinbarte Lieferzeiten nicht angeboten? Viele Kunden würden sich auch wünschen, dass der Lieferdienst noch ein bisschen da bleibt, damit zumindest die Möglichkeit bleibt, ins Paket zu gucken und bei Mängeln das Paket dem Boten gleich wieder zurückzugegeben. Im Laden habe ich auch die Möglichkeit, in die Schachtel rein zu schauen. Das alles baut sich gerade auf, aber das ist auch ein Aspekt, warum Online Handel noch nicht so abgeht, wie er könnte.
Warum zögern stationäre Händler?
Ganz klar: das ist eine digitale Allergie. Die möchten das aus Prinzip nicht, die finden das schrecklich. Ich habe das Zitat eines Buchhändlers aus Paderborn: „Internet ist Teufelswerk.“ Das bezeichne ich als digitale Allergie. Vor allem bei kleinen Händlern findet man das oft. Ich verstehe den lokalen Handel nicht, der eigentlich am nächsten, gleich neben dem Kunden, sein Geschäft hat. Ich würde dem Kunden den Anzug persönlich vorbeibringen und noch gucken, ob er passt. Das sind ja auch riesige Service Chancen. Aber Händler tun sich wahnsinnig schwer, den Laden zu verlassen.
Wenn der Händler seine digitale Allergie ablegt und den Schritt in den Online Handel wagt: Welchen Weg schlagen Sie vor?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich denke, wir sollten schon ganz stark unterscheiden: Handelt es sich um einen großen Filialisten oder den lokalen Händler?
Lassen Sie mich zunächst auf den lokalen Handel eingehen. Da haben wir in Mönchengladbach in einem Pilotprojekt ein 7-Stufen-Programm erarbeitet:
Die 1. Stufe ist die Desensibilisierung. Hier geht es darum, die Grundsatzentscheidung zu treffen: Ja, ich will.
Die 2. Stufe meint, die Voraussetzungen zu erfüllen. Das heißt oft erst mal ein mittelstandsverträgliches Warenwirtschaftssystem installieren.
In der 3. Stufe geht es darum, eine digitale Online Präsenz zu schaffen ohne zu verkaufen. Heißt, das gedruckte Prospekt kann, schon mobile optimiert, digitalisiert werden, damit Kunden es auch auf dem Smartphone ansehen können.
Die 4. Stufe: Üben, Online zu verkaufen. Das geht in der Regel mit einer etablierten Online Plattform, möglichst einer Plattform die mittelstandsverträglich ist. Wenn diese Übung erfolgreich war, ist die 5. Stufe anzudenken: Ein eigener Online Shop. Danach folgt in der 6. und 7. Stufe die Professionalisierung.
Und was schlagen Sie dem Filialisten vor: Digitale Transformation oder digitale Disruption?
Bei Filialisten gehe ich völlig anders ran. Ich nehme das Beispiel Media-Markt und Saturn, mit denen ich schon seit fast 15 Jahren im Gespräch bin. Die haben vor 15 Jahren gesagt: Online brauchen wir nicht, wir sind Marktführer. Diese Arroganz und Ignoranz haben sie noch nicht ganz abgelegt, aber heute sind sie zumindest soweit zu sagen, dass auch sie Online Handel betreiben müssen. Was heißt das aber? Dazu mache ich die Willensbereitschaft zum erfolgreichen Online Handel an der Höhe der digital investings fest.
Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube, dass der Begriff der digitalen Transformation schon falsch ist. Wenn es den digitalen Disruptor gibt, kann ich nur aufholen, wenn ich diesen als meine Messlatte verstehe. Daher muss der Begriff eher disruptive Transformation heißen: Mit dem gleichen Anspruch rangehen, wie es ein digitaler Disruptor macht. Und das bedeutet dann auch statt kleckern klotzen zu müssen, um diesen Anspruch zu erfüllen. Soweit ist, ehrlich gesagt, bis auf zwei oder drei Ausnahmen, keiner.
Wo sollten die digital investings hinfließen, um erfolgreich zu sein?
Der Online Shop muss mein Flagship Store sein. Der Shop muss mobile sein, mit dem Online Shop als positiver Kollateralschaden — das Ganze technisch state-of-the-art, und zwar ständig. Das ist Basis. Dann muss ich weiters verstehen, dass ein stationärer Lead-Channel nicht funktionieren kann, weil da völlig andere Metriken und Gesetzmäßigkeiten gelten. Wenn ich den Anspruch habe, einen stand-alone-fähigen Online Shop zu betreiben, dann muss ich auch anfangen, mit einer anderen Art von Kundenakquirierung zu arbeiten: das bedeutet eine ganz andere Art des Marketings und ein CRM. Vor allem Zweiteres haben viele stationäre Händler gar nicht auf dem Schirm. Die kennen vielleicht den Begriff der Kundenkarte, aber was ein Kundenkonto bedeutet, dafür fehlt das Verständnis.
Die Disruptoren leben das. Um aufzuholen, muss sich kulturell was ändern, die Organisation muss sich ändern. Die disruptive Transformation kommt einer Hardcore-Sanierung gleich, die ich freiwillig tue, die mich ganz viel Geld und Mühe kostet, und die ich parallel aus dem Boden stampfen muss. Das machen wenige freiwillig, aber es führt kein Weg daran vorbei.
Danke fürs Gespräch, Herr Heinemann!
Handelsexperte Gerrit Heinemann ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Heinemann beschäftigt sich mit den Themen E-Commerce, Online-Handel und Multi-Channel-Handel. Vor seiner wissenschaftlichen Laufbahn leitete Heinemann u.a. ein Kaufhaus, war als Zentralgeschäftsführer/Zentralbereichsleiter bei der Douglas Holding AG tätig und hat in der Unternehmensberatung gearbeitet.
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